
Willkommen im Arbeitsalltag
Solange haben wir davon geredet, dass wir für den Winter in Vancouver sein werden und wir es schaffen müssen, die lange Fahrt von Osten nach Westen vor den kalten Temperaturen mit unserer Mausi zu meistern. Und jetzt sind wir auf einmal da und können es gar nicht so richtig realisieren. Das erwartete Gefühl von „es fällt uns ein Stein vom Herzen“ kommt leider nicht auf und wir sind vor allem erschöpft. Die erste Woche kommen wir erst einmal in der Wohnung eines anderen Backpackers unter, der zur Zeit verreist ist. Da die Jungs (Jonas und Linus) ihr Apartment in Downtown erst ab dem 1. November haben, wohnen wir 4 Nächte zu viert in einem 1-Zimmer-Apartment. Obwohl wir das Haus kaum verlassen und gefühlt nur im Bett oder auf der Couch liegen, schaffen wir es, uns nicht die Köpfe einzuschlagen. Und das obwohl wir bereits zweieinhalb Wochen zusammen unterwegs waren. Liegt wohl daran, dass wir alle Handyspiele suchten oder Serie schauen. Dann verabschieden sich die Jungs mit Sack und Pack und wir fragen uns, ob wir wohl nochmal was außerhalb der Arbeit auf dem Weihnachtsmarkt zusammen machen werden.
Wir freuen uns über Zeit nur zu zweit, gehen ins Kino (Killers oft he Flowermoon ist ein sehr langer, aber sehr guter Film by the way) und fahren an den Strand in Kitsilano. Mir geht es nach der langen Überfahrt leider nicht so gut und meine Hüft- und Rückenschmerzen machen mir sehr zu schaffen. Glücklicherweise gibt es auch hier genau wie in Montreal gute Osteopath*innen und nach einer Sitzung geht es mir schon deutlich besser.
Am 6. November müssen wir aus dem Apartment raus, packen alles in Mausi und fahren zu einer alten Schulfreundin von meiner Mama, die ebenfalls Susanne heißt. Die beiden haben sich das letzte Mal in der 8. Klasse gesehen, bevor Susanne nach der Schule ganz nach Kanada gegangen ist. Vor ein paar Jahren hat meine Mama Susanne zufällig bei Facebook gefunden und hatte ihr geschrieben, ob sie nicht eine Unterkunft für uns in Vancouver weiß. Leider ist die Wohnungssuche in Vancouver in den letzten Jahren immer schwieriger geworden und es gibt zur Zeit eine „Housing-Crisis“, also eine Wohnraum-Krise. Susanne bietet uns aber netterweise an, ein paar Tage in ihrem Gästezimmer zu übernachten. Da wir unser Airbnb Apartment erst ab dem 8. November haben, dürfen wir eine Nacht bei ihr überbrücken. Sie empfängt uns mit offenen Armen, obwohl sie uns weder kennt, noch sich so richtig an meine Mutter erinnern kann. Wir verbringen einen schönen Abend zusammen. Susanne hat lecker Curry für uns gekocht und wir spielen mit ihrer super niedlichen Dackelin Ottilie.
Am nächsten Tag geht’s in unsere Wohnung, die wir voraussichtlich bis Ende Januar bewohnen werden. Es ist ein kleines, aber schön eingerichtetes 1-Zimmer-Apartment mit einer Schiebetür zum Schlafzimmer. Die Wohnung befindet sich in East Vancouver, in einem kleinen Wohngebiet, etwa 15-20 Minuten mit dem Bus von Downtown, also dem Stadtzentrum, entfernt. Leider müssen wir feststellen, dass sich der dazugehörige Parkplatz in einer Tiefgarage befindet, wo Mausi aufgrund des festen Hochdaches natürlich nicht reinpasst. Im Wohngebiet gibt es jedoch überall kostenlose Parkplätze, also ist es kein Problem einen Platz für Mausi zu finden. Nach ein paar Tagen haben wir jedoch einen Strafzettel über 60$ am Auto kleben und stellen fest, dass es in der ganzen Stadt Vancouver verboten ist „große Fahrzeuge“ in öffentlichen Bereichen zu parken außer zwischen 6 und 22 Uhr höchstens drei Stunden. Groß ist nach der Definition der Stadt Vancouver, ein Fahrzeug, wenn es entweder höher als 2,2 Meter ist (jap, das sind wir), länger als 6,4 Meter, schwerer als 5.500kg oder mehr als 10 Sitze hat. Da leider nur eins zutreffen muss und das bei uns die Höhe ist, fallen wir laut der Definition darunter. Obwohl wir nicht mehr Platz wegnehmen, als ein ganz normales Auto. Ein paar Tage überlegen wir, was wir machen und ob wir das Auto irgendwo weiter außerhalb parken. Dies ist uns am Ende jedoch ein zu hohes Risiko, weil wir da überhaupt nicht mitbekommen würden, wenn was mit Mausi passiert oder dort auf einmal Parkverbote aufgebaut werden. Wir entscheiden uns also dazu, Mausi einfach nicht direkt vor der Tür, sondern eine Straße weiter, nicht direkt vor einem Wohnhaus zu parken und abzuwarten, ob wir noch weitere Strafzettel bekommen. Das Ding ist nämlich, dass es hier keine allgemeine Kontrolle gibt, weil ja generell alle Parkplätze kostenlos sind. Dies bedeutet, es muss jemand bei der Stadt angerufen haben und die haben dann jemanden vorbei geschickt, um uns einen Strafzettel zu geben. Puuh, wir dachten, so etwas gibt es nur in Deutschland 😀 Aber anscheinend nicht. Wir vermuten, dass es vielleicht an unserem französischen Kennzeichen aus Quebéc liegt, da viele Leute hier im Westen sich meist nicht so freundlich gegenüber den französischen Kanadier*innen im Osten äußern und natürlich auch daran, dass wir direkt vor der Tür standen. Naja, alle zwei Wochen einen Strafzettel über 60$ ist immer noch günstiger als ein bezahlter Parkplatz. Also gehen wir das Risiko ein und wir können euch schon mal verraten, wir haben bis Ende Januar keinen mehr bekommen.
Insgesamt fühlen wir uns sehr wohl in dem Apartment, nur das Bett und Sofa sind leider etwas unbequem und wir vermissen unser großes Sofa aus unserer Wohnung in Kiel, wo wir uns so richtig schön reinfläzen konnten. Ab dem 10. November geht es schon das erste Mal für Malte arbeiten, ich habe noch keine Schicht, da nur die Männer an den ersten Tagen vom Aufbau dabei sind. Es fühlt sich total eigenartig an. Das erste Mal seit dem 14. Juni bin ich fast den ganzen Tag alleine. Sonst verbringen Malte und ich eigentlich jede Minute zusammen. Einmal war ich in Montreal eine halbe Stunde alleine einkaufen und das war das erste Mal, dass wir nicht zusammen waren. Nicht, dass ihr mich falsch versteht, es ist überhaupt nicht schlimm, mal was getrennt zu machen. Aber ich finde es sehr bewundernswert, dass wir uns trotz der ganzen Zeit zusammen noch nicht öfter gestritten und uns noch nicht die Köpfe eingeschlagen haben. Tatsächlich haben wir unseren ersten richtig großen Streit erst hier im Alltag in Vancouver und es geht ums Radfahren zur Arbeit, darauf hat Malte nämlich nicht so Bock 😀 Naja am Ende haben wir beide ein Rad, mit dem ich 3-4 Mal zur Arbeit fahre, Malte schafft es an dem Tag, wo er sein Fahrrad kauft damit zurück von der Arbeit zu fahren, und benutzt es dann nicht wieder… Ich gebe dann auch auf, nachdem ich leider ein paar Tage richtig krank bin und deshalb auch mit dem Bus fahre.
Am 14. November habe ich auch meinen ersten Arbeitstag und bin tatsächlich etwas aufgeregt. Am Ende ist es aber halb so schlimm und zusammen mit ein paar anderen Mädels dekorieren wir die verschiedenen Häuser. Donna und Adnan, unsere Chefs, sind ein deutsches Pärchen aus der Nähe von Karlsruhe, die vor 13 Jahren nach Kanada ausgewandert sind. Seitdem haben sie verschiedene Foodtrucks auf Festivals und machen schon seit einigen Jahren den Vancouver Weihnachtsmarkt mit. Dieses Jahr sind sie auch wie letztes Jahr mit einem Haxen-, einem Brat-, einem Schoko- und einem Souvenirhaus vertreten. Malte arbeitet gemeinsam mit sechs anderen plus Adnan im Haxenhaus (darunter auch Jonas, Linus, und deren Freund Jonathan, mit dem sie zusammen in der Wohnung in Downtown wohnen). Im Souvenirhaus, wo es unter anderem super schöne Feuerzeuge, Untersetzer, Kuhglocken, Schürzen etc. in bayrischen Farben und Kuckucksuhren für 300-500$ gibt, arbeiten drei Mädels. Im Schokohaus arbeiten auch drei, im Dezember dann vier Mädels, darunter Ayla, die Tochter von Donna und Adnan. Das Brathaus, indem ich arbeite, ist das größte Haus, wir sind insgesamt 12 Leute mit Donna, die auch öfter die Kasse übernimmt. Ab Dezember kommt noch eine Unterstützung für die Kasse, damit Donna mehr entlastet wird. Im November ist es noch ganz schön ruhig, und wir haben auch einige freie Tage zwischen den Schichten. Nur an den Wochenenden rennen die Weihnachtsmarktbesuchenden uns regelrecht die Buden ein, so dass wir ab 16 Uhr bis Ende Weihnachtsmarkt um 22 Uhr komplett keine einzige Pause haben und dauerhaft Menschen bei uns anstehen und Essen bestellen. Wir arbeiten in einem Schichtsystem, einer Früh- und einer Spätschicht. Bei der Frühschicht fängt man meist so zwischen 10-11 Uhr an und arbeitet bis 16-16:30 Uhr und Spätschicht fängt 16-16:30 Uhr an und dann bis 21:30-22:30 Uhr. Im November hat der Weihnachtsmarkt nur nachmittags offen, daher haben wir auch zwischendurch frei. Ab Dezember arbeiten wir dann jeden Tag und zwar immer abwechselnd Früh- und Spätschicht. So haben wir einmal länger frei, da wir um 16 Uhr Feierabend haben und am nächsten Tag erst wieder um 16 Uhr hinmüssen, einen Tag haben wir aber auch um 22:30 Uhr erst Schluss und müssen am nächsten Tag um 10 Uhr wieder da sein. Mit nach Hause fahren, essen und runterkommen, bleibt da dann meist nicht mehr so viel Zeit. Ein paar Sachen wie Ice Hockey Spiel, Schlittschuhfahren oder in einer Bar was trinken gehen, bekommen wir aber doch auf die Reihe und es ist schön, endlich mal wieder länger an einem Ort zu sein und einen zumindest zeitweiligen Freundeskreis mit einigen vom Weihnachtsmarkt-Team zu haben, mit dem wir Dinge unternehmen können. Denn das fehlt uns, seitdem wir unterwegs sind.
Ende November kommt Malte leider mit einer Schnupfnase von der Arbeit, da die anderen im Haxenhaus auch Schnupfen haben. Ich versuche echt Abstand zu Malte zu halten und trage im Bus auch immer eine Maske, aber natürlich stecke ich mich bei Malte an. In der Apotheke gibt es kostenlos Corona-Tests und da es mir nicht so gut geht, machen wir einen und siehe da, Malte und ich haben beide Corona. Es ist ja aber 2023 und wir haben alle nichts aus der Pandemie gelernt, daher gehen aus dem Haxenhaus alle weiter arbeiten, auch wenn sie sehr wahrscheinlich auch Corona hatten. Im Gegensatz zu mir haben die auch nur Schnupfen und mir geht’s mit Schüttelfrost, Fieber und Gliederschmerzen so richtig schön scheiße. Am Ende falle ich aber nur drei Tage von der Arbeit aus und schaffe es danach bis zum Ende des Weihnachtsmarktes durchzuhalten. Insgesamt machen wir den ganzen Dezember außer arbeiten, schlafen und essen (Malte vor allem Tim Hortons Gebäck und Bratwurst und ich nur Bratwurstbrot mit Currysauce) nicht viel. Die Arbeit macht jedoch richtig Spaß und es ist echt eine coole Erfahrung mit lauter Deutschen auf einem Weihnachtsmarkt in Vancouver zu arbeiten. Für unser Englisch ist das natürlich nicht so hilfreich, da wir auf der Arbeit fast nur Deutsch reden, aber die Kund*innen finden es immer supercool, wenn wir „Thüringer Bratwurst“ auf Deutsch aussprechen 😀 Ich arbeite zwar an der Kasse, sage jedoch im Dauerlauf die gleichen Sätze, so dass ich schon anfange von diesen Sätzen zu träumen („Hey, what can I get for you? Do you like Sauerkraut on top? Sauerkraut is pickled cabagge. How would you like to pay? Debit or credit? You can choose tip if you like then price twice okay and just tap on the screen. Here’s your order number, you can pick it up at the next window”). Malte hingegen träumt von ganz vielen Haxen, die sich am Spieß drehen. Er hat so gut wie gar keinen Kundenkontakt und steht mit den Rücken zu diesen. Er schneidet nämlich die Haxen und das über mehrere Stunden am Stück in Akkordarbeit. Die Leute hier, vor allem die Asiaten, von denen viele den Weihnachtsmarkt besuchen, lieben nämlich pork hogs (=Haxen). Malte macht die Arbeit in seinem Team sehr viel Spaß, vor allem, weil sie im Haxenhaus eine eigene Spotify-Playlist erstellt haben, so dass sie bei der Arbeit motivierende Musik hören können. Malte’s Haut an seinen Händen findet die Arbeit allerdings nicht so gut, vor allem den Dampf der heißen Haxen und die Feuchtigkeit in den Handschuhen. Am Ende des Weihnachtsmarktes bin ich sehr froh, dass Maltes Hände noch dran sind und nicht abgefallen. Nach fünf Wochen haben sie sich mittlerweile auch schon fast erholt und die Haut hat sich einmal runderneuert. Im Brathaus gibt es auch eine Playlist, leider gibt es aber ein paar Fans von so richtig toller Ballerman Mucke, die ich den ganzen Tag ertragen muss. Mittlerweile kann ich sie halt auch alle auswendig… wieviel Hände hat der Oktopus? 100.000 Hände! So scheiße die Texte auch sind, die Beats sind halt leider einfach alles Ohrwürmer.
Am 24. Dezember sind wir auf jeden Fall ziemlich durch und können Bratwürste und Haxen echt nicht mehr sehen und auch nicht mehr riechen.. und das Sauerkraut erst. Manche Kleidung und unsere Wasserflaschen riechen auch leider immer noch nach Sauerkraut. Die tollen Fragen und Extrawünsche der Kund*innen vermissen wir auf jeden Fall auch nicht. Am Anfang hat Donna uns noch immer erzählt, wie schlimm das gegen Ende Dezember mit den Besuchenden wird und wir dachten noch so, so schlimm kann es nicht werden. Doch es gibt dumme Fragen, es gibt sehr dumme Fragen. Und Menschen hören nicht zu, egal wie langsam und nett, du es sagst. Und ein Kartengerät können auch die wenigsten bedienen und Schilder lesen ist meist auch nicht drin. Da war ich doch manchmal richtig froh, dass ich dann wenigstens einmal auf Deutsch so richtig meinen Frust rauslassen konnte 😀 Also wir haben wirklich sehr großen Respekt für alle Menschen, die tagtäglich im Einzelhandel arbeiten und die Menschen ertragen. Wenn ihr also das nächste Mal irgendwo einkaufen geht, versucht einfach besonders nett zu den Verkäufer*innen zu sein, das versuchen wir nun auch immer. Und wenn die Verkaufenden mal schlecht drauf sind, habt Rücksicht mit ihnen, vielleicht haben sie vorher gerade nur dumme Menschen bedient.